Agile Methoden

Das Minimal Viable Product: Die Schwierigkeit des minimal notwendigen Funktionsumfangs

Ein Beitrag von der netzwertig Redaktion - Lesedauer ca. 4 Minuten

Einen neuen Onlinedienst lediglich mit minimaler Kernfunktionalität auszustatten, um damit Early Adopter anzusprechen, ist eine beliebte Strategie vieler junger Gründerteams.

 

Für das sogenannte Minimal Viable Product die richtige Balance zu finden, kann schwierig sein.

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Eine beliebte Strategie zahlreicher junger Entrepreneure im Web- und Mobile-Segment ist das Streben nach dem sogenanten Minimal Viable Product (MVP), also einem Produkt, das zu seiner ersten Veröffentlichung lediglich Kernfunktionalität beinhaltet.

Die Philosophie des MVP trägt der Tatsache Rechnung, dass die meisten Onlinedienste erst in die freie Wildbahn entlassen und von Nutzern getestet werden müssen, bevor sie ihren letzten Feinschliff erhalten und beweisen können, dass sie tatsächlich eine Nachfrage bedienen oder schaffen.

Der Gegensatz zu einer Gründung nach dem Prinzip des MVP ist ein perfektionistischer Ansatz, bei dem ein neuer Service erst dann der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird, wenn jeder Pixel sitzt und jedes anvisierte Feature umgesetzt wurde. Wer so verfährt, ist zwar weit weniger auf die Toleranz und Geduld erster Nutzer angewiesen - da ja zum Debüt alles funktioniert wie im Bilderbuch - läuft aber Gefahr, viele Monate an einem Produkt zu basteln, das nach der Lancierung gar niemand haben möchte.

Mit dem MVP stellen Startup-Macher also sicher, nicht enorme Ressourcen (Zeit, Kapital) mit einem Vorhaben zu verschwenden, das nicht gut ankommt. In der Automobilindustrie, bei Flugzeugherstellern oder in der Pharmabranche könnte ein MVP im schlimmsten Fall Leben kosten. Bei Webangeboten und mobilen Apps steht allein die Laune und Loyalität von Early Adoptern auf dem Spiel, die üblicherweise die Zielgruppe eines MVP darstellen.

Der Unternehmer und Autor Eric Ries bezeichnete das MVP einst als Produkt, dessen Featureumfang gerade so ausreicht, um bei einem Debüt besagte Early Adopter anzusprechen, in der Hoffnung, das einige von ihnen für die Nutzung bezahlen (zum Beispiel für Premium-Funktionen) oder Feedback hinterlassen, damit auf diese Weise erforderliche Verbesserungen und Erweiterungen vorgenommen werden können.

Nicht wenige der jungen Startups, über die wir in unserer Rubrik der digitalen Geschäftsmodelle berichten, wurden von ihren Erschaffern als MVP konstruiert. Wann ein Produkt jedoch die erforderliche Untergrenzen von dem erreicht, was von der initialen Anwenderschaft als essentielle Kernfunktionalität wahrgenommen wird, variiert stark. Kommen frühzeitige Testanwender häufiger zu einem noch sehr schmucklosen Dienst zurück, ist dies ein deutliches Indiz dafür, dass die MVP-Zielstellung erreicht wurde.

Hundefutter als vollwertige Mahlzeit verkauft

Dass der ein MVP prägende Drang zum Weglassen von Details aber auch zu weit gehen kann, spürte ich vor einigen Tagen am eigenen Leib, als ich auf die Empfehlung eines Bekannten einen Dienst namens LiveLead unter die Lupe nahm. Der US-Service bietet Anwendern eine Möglichkeit, Videos in Echtzeit mit Facebook-Freunden anzuschauen. Doch einmal davon abgesehen, dass derartige Ideen des kollaborativen Videkonsums schon häufiger vergeblich in Angriff genommen wurden (beispielsweise von Chill), schockierte mich die hochgradig unansehnliche Oberfläche des auf Invite-Only-Basis betriebenen Angebots.

LiveLead fehlt augenscheinlich nicht nur ein Designer, sondern auch ein Entwickler mit einem grundlegenden Gefühl für Ästhetik und dafür, welches Interface man Anwendern zumuten kann. Mehrfach fragte ich mich bei meinem kurzen Aufenthalt auf der Site, ob ich hier nicht einem verfrühten Aprilscherz auf dem Leim gegangen war. Doch mein Bekannter, der mit dem LiveLead-Gründer gesprochen hat, versicherte mir, dass es sich um ein ernsthaftes Projekt handelt, das als MVP aufgezogen wird.

Nur weil Early Adopter überdurchschnittlich viel Geduld, Fehlerakzeptanz und Experimentierfreude mit sich bringen, heißt dies nicht, dass man ihnen Hundefutter als vollwertige Mahlzeit vorsetzen sollte. Und wer dies tut, kann sich sicher sein, diese Personen nie wieder bei sich anzutreffen. Dann allerdings war das ganze MVP-Unterfangen für die Katz. Es sei denn, die Gründer wussten nicht einmal, dass ihr Projekt  mit der gewählten Optik deutlich weniger als ein MVP war. In diesem Fall sollten sie aber lieber ganz die Finger vom Aufbau eines Webstartups lassen.

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Unverzeihliche User: Neue Apps und die Zehn-Sekunden-Regel

Innerhalb weniger Sekunden entscheiden Anwender heute, ob sie sich mit einem neuen Onlineservice oder einer App näher beschäftigen. Viele Startups ignorieren dies jedoch und verbauen sich damit ihre Chancen auf Erfolg.

Startup-Gründer, die eine reine Softwarelösung entwickeln - sei es in Form einer Webanwendung oder einer nativen App - können sich heutzutage sicher sein, dass ihr Konzept in identischer oder ähnlicher Form schon mehrfach zuvor ausprobiert wurde. Auf Basis von tausenden Mails mit Startup-Vorstellungen, die wir im Laufe der Jahre erhalten haben, lässt sich die nahezu kategorische Aussage treffen, dass heute keine Digital-Idee ohne Hardwarekomponente oder ohne massive Investitionen erfordernde Hochtechnologie-Innovation im Rücken mehr Einzigartigkeit besitzt. 2018 ist nicht 2005.

Nutzer evaluieren blitzschnell

Das bedeutet auch, dass die meisten User schon viele Apps und Onlinedienste kennengelernt, ausprobiert und wieder verlassen haben. Dadurch ist über die Jahre die Zeitspanne geschrumpft, die Startups und Services zur Verfügung steht, um Nutzer für sich zu gewinnen. Hier unterscheiden sich Webservices oder Applikationen nicht von typischen Gebrauchsgegenständen: Wenn Konsumenten sich nach einem Auto, einem Sofa oder einem Tablet umsehen, dann sind sie anfänglich noch sehr geduldig, schauen sich jedes Detail genau an und geben auch nicht sofort auf, wenn sie eine spezifische Produkteigenschaft stört. Nach dem zehnten Exemplar aber kennen sie ihre eigenen Ansprüche schon deutlich besser, evaluieren schneller eine Eignung oder Nichteignung und sind weitaus weniger verzeihlich, wenn ihnen eine Schwäche ins Auge sticht.

In der Praxis bedeutet dies für alle Macher von an Endkonsumenten gerichteten Onlinediensten und Apps, dass ihre Anwendungen innerhalb weniger Sekunden Usern das Gefühl geben müssen, dass sich ein intensiverer Blick lohnt. Ich bezeichne dies als die Zehn-Sekunden-Regel (die Dauer kann freilich variieren, aber als Richtwert halte ich zehn Sekunden für geeignet). Die Macher von Softwareprodukten haben zehn Sekunden, um die Aufmerksamkeit potenzieller Nutzern/Kunden zu erhalten und um außerdem zu beweisen, dass sie sich über dieses Kriterium in Klaren sind, indem sie sich in diesen zehn Sekunden keine groben Schnitzer leisten. Doch genau diese Kenntnis scheint wenig verbreitet zu sein.

Startups missachten die Zehn-Sekunden-Regel

Immer wieder werden wir beim Ausprobieren von neuen Diensten, auf die uns Startups per Mail aufmerksam machen, auf die Geduldsprobe gestellt. Mal führt die Bestätigungs-E-Mail, die nach der Registrierung geschickt wird, ins Leere. Mal befördert einen das Ausfüllen des Anmeldeformulars einfach in eine "Sackgasse", ohne dass die eigentliche Benutzeroberfläche der App angesteuert werden kann. Eine Social-Web-App ohne Eigenwert und ohne Personen zum Folgen hat denkbar schlechte Aussichten auf Erfolg. Zehn Sekunden genügten für diese Einsicht.

Das Minimum Viable Product nicht falsch verstehen

Viele Startups fokussieren sich in der Frühphase auf die Erschaffung des "Minimum Viable Products". Eine unzureichende User Experience in den ersten zehn Sekunden ist oft die Folge. Empfehlenswerter ist deshalb die Kreation eines "Minimum Delightful Products". Dazu gehört, dass sich die Anwendung in den kritischen ersten zehn Sekunden (und gerne darüber hinaus) in puncto Funktion und Struktur, Design sowie Qualität von ihrer besten Seite zeigt. Dass Bugs oder konzeptionelle Schwächen Usern im Laufe der Zeit gelegentlich dazwischenfunken, gehört im Anfangsstadium dazu. Geschieht dies aber schon in den ersten Sekunden der Interaktion zwischen User und Dienst, ist dies ein Todesurteil.

Wochen oder Monate hart arbeitenden Teams mag diese "Oberflächlichkeit" missfallen. Doch wer im Startup- und App-Zirkus mitmischen will und ein Produkt entwickelt, das Usern von der Usability, vom Aufbau oder von den Funktionen her in irgendeiner Form bekannt vorkommt (was heute für 95 Prozent aller Projekte gilt), dem bleibt nichts anderes übrig, als die Zehn-Sekunden-Regel zu befolgen. Die Alternative wäre, etwas wirklich Neues zu erfinden, bei dem User keine blitzschnell anwendbaren Vergleichsmaßstäbe besitzen.

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