Professionelle und zuverlässige Führung zu einem zentralen Steuerungsfaktor für Unternehmen machen
Ein Beitrag von Peter Wollsching-Strobel
Führung 4.0: Eine Frage der Glaubwürdigkeit
Digitalisierung, unsichere Märkte, Globalisierung, wenig berechenbare Politik – in solch einem schnelllebigen und schwer kalkulierbaren Kontext wird professionelle und zuverlässige Führung zu einem zentralen Steuerungsfaktor für Unternehmen. Das Problem: Einerseits hat das Vertrauen in die Wirtschaftsführer angesichts diverser Skandale in jüngster Zeit erheblich gelitten. Führungskräfte müssen mittlerweile um ihre Glaubwürdigkeit kämpfen. Anderseits sehen sie sich mit der Herausforderung einer grundlegend veränderter Führungsrolle konfrontiert: New Work, selbstorganisierte Teams und flexible Netzwerkstrukturen im Rahmen von Industrie 4.0 erfordern neue Formen der Zusammenarbeit und der Mitarbeiterkommunikation. Das traditionelle Führungsverständnis von Command und Control ist hier nicht mehr zeitgemäß. Allerdings heißt weniger disziplinarischer Führungsspielraum nicht weniger Führungsanforderungen – im Gegenteil: In der aktuellen Situation ist glaubwürdige und kompetente Führung wichtiger denn je und wird vor allem zu einer Frage gelungenen Beziehungsmanagements.
Faktoren moderner Führungskompetenz
Unternehmen sind daher gehalten, neue Formen der Führungskräfteentwicklung zu etablieren, wobei folgende Faktoren des Führungshandelns in den Vordergrund rücken:
Orientierung geben
Management und Mitarbeiter erleben derzeit unablässig Veränderungsanforderungen, ohne dass man wirklich sagen könnte, wohin die Reise geht – wie viel Digitalisierung das Unternehmen bei-spielsweise in den kommenden fünf Jahren tatsächlich braucht und umsetzen will. Inmitten der digitalen Transformation ist es daher eine wichtige Führungsaufgabe, den Mitarbeitern klare Orientierung und Perspektive zu geben und damit auch Verbindlichkeit zu schaffen. Das heißt, Führungskräfte müssen gerade heute eine überzeugende Vision des Unternehmens formulieren, die Sinnangebote offeriert und allen Beteiligten als Brücke für die Zukunft dient. Und sie müssen die Vision nachvollziehbar mit Bedeutung füllen, indem sie diese in eine tragfähige Mission, ein praktikables Leitbild und eine umsetzbare wie auch möglichst flexible Strategie übersetzen. Im Mittelpunkt steht dabei die Frage, an welchen Stellen machbare digitale Lösungen die Umsetzung der Unternehmensstrategie unterstützen und wie Mitarbeiter hierbei mitgenommen und entsprechend qualifiziert werden können. Wer in der VUCA-Welt zu Leistungsbereitschaft und Engagement motivieren will, muss also eine nachvollziehbare Position vertreten, Verlässlichkeit ausstrahlen und für andere einschätzbar sein. Unter diesen Bedingungen sind auch erforderliche Richtungsänderungen glaubhaft vermittelbar.
Besonnen handeln
Das für Manager lange Zeit gültige „Primat des Handels“ als Ausdruck schneller Reaktions- und Wettbewerbsfähigkeit ist so nicht mehr zielführend. In einer politisch wie wirtschaftlich instabilen und schwer durchschaubaren Welt führt ein „Management der ruhigen Hand“ und bedachtsames Abwägen der Situation eher zum Erfolg als überstürzter Aktionismus. Dazu gehört nicht nur, eine klare Linie zu verfolgen, in (scheinbaren) Krisen ruhig zu bleiben und Druck standzuhalten. Besonnenes Handeln als Führungsqualität setzt vor allem Reflexionsfähigkeit und analytische Intelligenz für den richtigen „Zukunftsblick“ voraus. Um mögliche Entwicklungen zu antizipieren und gegebenenfalls auch Krisen vorwegzunehmen, bedarf es zudem erhöhter Wachsamkeit und kritischer Beobachtung: Was passiert mit unserem Geschäft? Wie entwickeln sich Märkte, Organisation und Belegschaft? Statt jedem Markttrend hektisch „hinterher zu hecheln“, gilt es, bewusst und umsichtig zu entscheiden, wie viel an digitalem Fortschritt in die Unternehmensentwicklung einfließen und an welcher Stelle und in welchem Umfang weiterhin auf Bewährtes gesetzt werden soll und muss. Letztlich geht es darum, das für das jeweilige Unternehmen richtige Maß an Veränderungsgeschwindigkeit zu finden.
Personal entwickeln
Um notwendige Qualifizierungs- und Weiterbildungsmaßnahmen initiieren und vorhandene Potenziale weiterhin nutzen zu können, müssen Personalverantwortliche frühzeitig erkennen, wie sich Funktionen und Anforderungen im Zuge der technischen Entwicklung grundsätzlich verändern. Mitarbeiter, deren Positionen wegfallen, sollten die Möglichkeiten haben, in andere Rollen hineinzuwachsen. Angesichts der Dimension, in der Arbeitsplätze in allen Bereichen durch Digitalisierung bedroht sind, haben Unternehmen und Führungskräfte in den kommenden Jahren eine besondere gesellschaftliche Verantwortung für eine maßvolle und zugleich bedarfsgerechte Personalplanung und -entwicklung. Gleichzeitig muss der Blick den Leistungs- und Know-how-Trägern gelten, auf die in einem fluiden Arbeitsumfeld durch permanente Erreichbarkeit, flexible Arbeitszeiten, selbstbestimmtes Arbeiten, mediale Präsenz, Networking, interdisziplinäre oder internationale Teamarbeit tendenziell eine Mehrbelastung und verstärkter Ergebnisdruck zukommt. Daher ist notwendig, gerade engagierte Mitarbeiter durch wirksame und speziell konzipierte Maßnahmen im Bereich Selbstorganisation und Selbstmanagement in ihrer persönlichen Entwicklung zu unterstützen. Führungskräfte sind hierbei vor allem in ihrer Rolle als Berater, als Mentoren und Befähiger gefordert.
Führungshandwerk beherrschen
Zum Kompetenzprofil von Führung 4.0 gehört letztlich auch das nötige Maß an handwerklicher Pro-fessionalität, die es ermöglicht vorhandene Werkzeuge wie Performancemanagement, Entschei-dungsfindung, Organisation und Kontrolle kompetent einzusetzen und vor allem den Anforderungen der digitalisierten Wissensökonomie anzupassen. Deshalb müssen Führungskräfte – mit entsprechender Unterstützung durch Experten – in der Lage sein, in digitalen Zusammenhängen und Lösungen zu denken, und beurteilen können, was technologisch möglich und sinnvoll ist. Zudem ist eine gewisse Affinität gegenüber neuen Medien unabdingbar. Denn die Arbeitswelt 4.0 erfordert immer öfter das Führen auf Distanz, was ohne den Einsatz moderner Kommunikationskanäle kaum noch möglich ist. Über diese Kanäle wird der Austausch schneller, mehrstimmiger – und gleichberechtigter.
Beziehungskompetenz stärken
Wer in modernen Unternehmensnetzwerken effektive Zusammenarbeit und Leistungsfähigkeit sowie Engagement und Commitment jenseits disziplinarischer Weisung erreichen will, muss folglich auf der Beziehungsebene „fit“ sein. Gelungenes und authentisches Beziehungsmanagement als grundlegender Bestandteil von Führung 4.0 beruht dabei auf folgenden Anforderungen und Kriterien:
- Wertschätzung vermitteln: Wertschätzung ist die wesentliche Grundlage für jene diskursive Form der Partizipation, die es in der Industriewelt 4.0 möglich macht, Wissen und Ideen zu teilen und erfolgreich nach gemeinsamen Lösungen und neue Modellen zu suchen. Sie vermittelt sich vor allem in der täglichen Kommunikation wie auch durch das Delegieren wichtiger, aber für die Mitarbeiter leistbarer Aufgaben.
- Vertrauensvolle Beziehungen aufbauen: In einer Welt, in der vorhandene Strukturen und Modelle immer neu auf dem Prüfstand stehen, basiert wirksame Führung vor allem auf Vertrauen. Erst gegenseitiges Vertrauen zwischen Führungskräften und Mitarbeitern ermöglicht so etwas wie eine „robuste“ Führungssituation, die gefestigt genug ist, um Unwägbarkeiten, die sich im aktuellen Umfeld gar nicht vermeiden lassen, auszuhalten. Vertrauen ist also so etwas wie der emotionale „Kitt“, der die Organisation auch in unsicheren Zeiten funktionieren lässt.
- Empathie und emotionale Intelligenz: Empathie gilt als zentraler Faktor, um Mitarbeiter in der Arbeitswelt 4.0 zu optimaler Performance zu führen. Denn offene Systeme managen, heterogene Teams steuern, selbst Vertrauen schenken und die entsprechenden Freiräume gewähren, kann nur diejenige Führungskraft, die Einfühlungsvermögen gegenüber den Mitarbeitern besitzt und deren berufliche wie persönliche Wünsche, Bedürfnisse und Interessen kennt. Gerade angesichts zunehmender Eigenverantwortung und Selbstständigkeit der Mitarbeiter im Zeichen von New Work wird effektive und effiziente Zusammenarbeit über die Gefühlsebene gesteuert. Erfolgreiche Führungskräfte zeichnen sich dadurch aus, dass sie die Emotionen der Mitarbeiter wahrnehmen, verstehen und in die richtige Richtung lenken können.
Rückgewinnen von Glaubwürdigkeit und kontinuierliches Arbeiten an der eigenen Führungspersönlichkeit
Der beste Hochglanz-Wertekodex nützt nichts, wenn die Wertepraxis in den Unternehmen nicht stimmt. Umso wichtiger ist es, dass sich Führungskräfte in unsicheren Zeiten auf „klassische humanistische Tugenden“ wie Fairness, Bescheidenheit, Verträglichkeit, Wohlwollen, Umsicht und Mut besinnen und diese in ihrer Vorbildfunktion auch vorleben. Nur so lassen sich Wertschätzung, Vertrauen und Beziehungskompetenz authentisch vermitteln – nicht nur gegenüber Mitarbeitern, sondern auch gegenüber Kunden. Dies wie auch die Fähigkeiten, Integrität und Zuverlässigkeit auszustrahlen sowie Fehler zugeben zu können, führen dazu, sich als Führungskraft wirklich glaubhaft präsentieren zu können. Das Faktoren-Modell verdeutlicht, worauf es bei dieser Aufgabe in Zukunft ankommt, und zeigt zugleich: Gelungene, Gefolgschaft erzeugende Führung 4.0 ist kein „Hexenwerk“, sondern beinhaltet viele praktische Ansatzpunkte. Allerdings macht es auch klar: In der aktuell noch wenig absehbaren digitalisierten Welt hat nur der Führungserfolg, der kontinuierlich an seiner eigenen Führungspersönlichkeit arbeitet und sich dabei immer wieder anpassen und verändern kann. Wer sich heute als Führungskraft fragt, ob er in den nächsten Jahren überhaupt noch gebraucht wird, sei gesagt: Führung wird nicht überflüssig, und wirkungsvolle Führungs- und Steuerungskompetenz ist gefragter denn je. Mitarbeiter sind weiterhin Menschen mit Gefühlen und Bedürfnissen, die Richtung und Halt brauchen – und zwar umso mehr, je diffuser und instabiler das gesellschaftliche Umfeld ist.
Der Autor: Peter Wollsching-Strobel, arbeitet seit über 25 Jahren als Unternehmensberater in den Bereichen Human Resource Management, Führungs- und Organisationsentwicklung und berät als Coach zahlreiche namhafte Führungspersönlichkeiten. Er ist Geschäftsführer der PWS Wollsching-Strobel Ma-nagementberatung GmbH mit Sitz in Frankfurt am Main, die sich insbesondere durch innovative Konzepte der Organisations-, Nachwuchs- und Führungskräfteentwicklung einen Namen gemacht hat. Peter Wollsching-Strobel ist Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Supervision (DSGV), akkreditiert im Deutschen Arbeitskreis für Gruppenpsychotherapie und Gruppendynamik (DAGG) und Autor einer Reihe von Fachveröffentlichungen.