Chemie 4.0: Die Digitalisierung der chemischen Industrie
Die chemische Industrie ist wie viele andere Wirtschaftszweige in einem großen Umbruch. Die Digitalisierung im Rahmen der Industrie 4.0 sorgt dafür, dass sich chemische Unternehmen wie BASF, Bayer oder Henkel gleichermaßen wie ihre Dienstleister und Kunden in vielen Bereichen auf eine Art Expedition begeben. Wohin die Reise genau führt, weiß keiner genau, da das zu beschreitende Terrain unbekannt ist. Sicher ist aber, dass die Digitale Transformation bedeutende Umbrüche mit sich bringt. Der Wandel kann teilweise so heftig sein, dass eine Disruption stattfindet – also ein radikales Aufbrechen bekannter Strukturen. All dies betrifft Menschen, Maschinen und Prozesse.
Wir erläutern hier den Status Quo, die Visionen der Chemie 4.0 und was die hauptsächlichen Herausforderungen für die Digitalisierung der chemischen Industrie sind.
Thema Chemie 4.0: Übersicht
Status Quo: Wo steht die chemische Industrie?
Die Chemieindustrie ist ungefähr 150 Jahre alt. Sie wird von Großkonzernen und von mittelständischen Unternehmen geprägt. Der Gesamtumsatz liegt bei weltweit rund drei Billionen Euro. Laut Analysten soll das Volumen bis zum Jahr 2035 auf 5.600 Milliarden Euro, also weit über fünf Billionen, anwachsen. Die größten Chemienationen der Welt sind laut dem Verband der Chemischen Industrie e.V. (VCI): China (1,7 Billionen Euro Umsatz), USA (0,7 Billionen Euro), Deutschland (0,2 Billionen Euro), Japan (0,19 Billionen Euro) und Südkorea (0,13 Billionen Euro).
Damit stellt die chemische Industrie in Deutschland und in anderen Ländern ein sehr wichtiger Wirtschaftsfaktor dar, an dem Hunderttausende Arbeitsplätze hängen. Auch deswegen, weil in der Bundesrepublik die größten Chemie-Unternehmen ihren Sitz haben. Dazu zählen unter anderem BASF (der größte Chemiekonzern der Welt), Bayer, Fresenius, Linde, Henkel, Boehringer Ingelheim, Evonik Industries und Merck.
Was bedeutet Chemie 4.0?
Der Begriff Chemie 4.0 ist eine Abwandlung des Begriffs Industrie 4.0, der für die vierte Evolutionsstufe der Industrialisierung steht. Diese bezeichnet die Digitalisierung der Unternehmen, oft auch als Digitale Transformation oder Digital Transition bezeichnet.
Chemie 4.0 steht somit vereinfacht für die Digitalisierung der Chemieindustrie. Doch betrachtet man die einzelnen Aspekte des Wandels genau, steht dahinter viel mehr. "Chemie 4.0 ist mehr als nur die weitere Digitalisierung der chemischen Industrie", sagt Kurt Bock. Laut dem Präsidenten des VCI stehe der Begriff für eine Strategie, die durch Innovationen auf allen Ebenen ein nachhaltiges Wachstum der Branche erzeugen soll. Die Nachhaltigkeit sei das umfassende Leitbild.
Klicken Sie das Bild an, um eine vergrößerte und schärfere Ansicht zu erhalten (Bild: Verband der Chemischen Industrie e.V., VCI)
Chemie 4.0: Das sind die Aspekte und Bereiche
Die Transformation der Chemieindustrie betrifft die ganze chemische Wertschöpfungskette: von der Forschung und Entwicklung über die Produktion bis hin zum Vertrieb. Beispiele hierfür sind chemische Erzeugnisse, die am Computer mit Virtual Reality oder durch 3D-Druckern entstehen, Produktionsanlagen, die mittels Sensoren und Tablets überwacht werden (Predictive Maintenance), oder die konstante digitale Überwachung der Lieferkette (Digital Supply Chain).
Darüber hinaus beschreibt das Whitepaper „Digitalisierung in der chemischen Industrie“ der Gesellschaft für chemische Technik und Biotechnologie e.V. (DECHEMA) weitere Möglichkeiten: "Die vertikalen und horizontalen Wertschöpfungsketten werden sich noch stärker zu einem voll integrierten digitalen Wertschöpfungsnetzwerk entwickeln. Digitale Anlagen bilden einen Teil dieser zukünftigen Wertschöpfungsnetzwerke. Die Vision der digitalen Anlage spielt im gesamten Lebenszyklus eines Betriebs der chemischen Prozessindustrie derzeit bereits eine Rolle."
Das bedeutet, die Produktionsanlagen werden mit Sensoren versehen und vernetzt. So lassen sie sich einerseits besser warten, andererseits ist so eine flexiblere Produktion möglich. Hierdurch entstehen gigantische Datenmengen (Big Data), die durch Algorithmen und Fachpersonal analysiert und verwertet werden müssen. Dementsprechend sind in der chemischen Industrie von morgen zunehmend Spezialisten aus IT-Bereichen gefragt.
Durch die Digitalisierung der Chemieindustrie entstehen neue Berufe, Arbeitsplätze und Geschäftsmodelle. Einer ist das Digital Farming. Hierbei erfassen und optimieren Landwirte ihre Erträge voll digital, indem sie beispielsweise Dünge- und Pflanzenschutzmittel zielgerichtet einsetzen. Digitale Plattformen sind ebenso eine Möglichkeit, beispielsweise um Chemie-Firmen direkt mit Landwirten zu vernetzen. So könnten Zwischenhändler wegfallen und der Hersteller wüsste besser, was der Kunde wann benötigt – und wo sich neue Marktchancen ergeben.
Wie gut ist die Chemie-Industrie auf den Wandel vorbereitet?
Die digitale Transformation stellt einige Firmen vor große Herausforderungen. Laut einer Umfrage der Unternehmensberatung Roland Berger haben knapp 60 Prozent der Chemieunternehmen erkannt, dass sie eine digitale Strategie benötigen. Doch bei der Hälfte fehlt das Know-how für die Transformation zur Chemie 4.0.
Damit geht es der Chemie-Industrie ähnlich wie anderen Branchen: Das Thema Digitalisierung wurde als Chance bzw. Notwendigkeit erkannt, doch den Wandel zu vollführen fällt schwer.
Wie gelingt der Wandel zur Chemie 4.0?
Um die Digitale Transformation bzw. Transition zu meistern, empfiehlt zum Beispiel Roland Berger eine Mischung aus Evolution und Revolution. „Sie haben eine Vision, das heißt, sie erkennen, wo auf ihrer Wertschöpfungskette Chancen brachliegen und nutzen gezielt digitale Technologien, um einerseits evolutionär Verbesserungen voranzutreiben und andererseits in ausgewählten Bereichen neue revolutionäre Wettbewerbsvorteile zu erreichen", sagt die Beraterin Carolin Griese-Michels. "So bleiben sie in ihrer Branche führend und treiben gleichzeitig die Veränderung des Marktes in ihrem Sinne voran."
Doch Experten schränken dieses Vorgehen ein: Es gibt keinen Stein der Weisen, also ein allgemein gültiges Konzept, das für alle chemischen Unternehmen angewendet werden kann. Dafür ist die Bandbreite an Produkten und Anwendungen zu groß. Deswegen benötigt jede Firma eine individuelle Chemie 4.0-Lösung, um die Herausforderungen meistern zu können.
Zudem macht es keinen Sinn, jeden Bereich zwanghaft digitalisieren zu wollen. So sieht das zumindest Margret Suckale, Mitglied des BASF-Vorstands. Auf dem „SZ Wirtschaftsgipfel“ im November 2016 erklärte sie bei einer Podiumsdiskussion, dass es Bereiche gäbe, bei denen die Digitalisierung weniger sinnvoll sein kann. Zum Beispiel, wenn Kunden lieber mit einem Berater an einem Tisch sitzen möchten, anstatt eine App zu nutzen. Am Ende hänge der Grad der Digitalisierung vom einzelnen Produkt ab, so Suckale.
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