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Was Telegrafie und Internet gemeinsam haben: Von Weltfrieden und Informationsüberflutung

Alter Morse-Telegraph auf Holztisch iStock / Getty Images plus: tantawat

Vor 150 Jahren veränderte die Erfindung der Telegrafie die Welt und zog Menschen rund um den Globus in ihren Bann, begleitet von sowohl utopischen Hoffnungen als auch schwarzmalerischen Befürchtungen. Die vielen Parallelen zum Zeitalter des Internets sind erstaunlich.

In der Regel veröffentlichen wir keine Buchrezensionen. Aber wie immer bestätigen Ausnahmen die Regel - heute mache ich eine. Denn im Blog von Autor und Journalist John Battelle stieß ich jüngst auf eine Buchempfehlung , die sich als hervorragender Tipp herausstellte und grundsätzlich für alle interessant sein dürfte, die sich aus Leidenschaft oder beruflich mit der Ausbreitung und den Auswirkungen des Internets befassen.

Im Jahr 1998 veröffentlichte der britische Journalist Tom Standage sein Werk "The Victorian Internet:

The Remarkable Story of the Telegraph and the Nineteenth Century's On-Line Pioneers". Wie der Name erahnen lässt, beschäftigt sich Standage in dem nur auf Englisch herausgegebenen Buch mit der Erfindung und Verbreitung der Telegrafie im 19. Jahrhundert. Was Menschen mit einem Faible für geschichtliche Ereignisse, das viktorianisches Zeitalter sowie den Erfindergeist der frühen Phase der Industrialisierung bekannt sein wird, dürfte manch begeisterte Internetapologeten überraschen: Die Erfindung und Vermarktung des Telegrafen veränderte die Gesellschaften des 19. Jahrhunderts in einem ähnlichen Maße, wie dies heute im Zuge der Digitalisierung geschieht. Und nicht nur die hohen Erwartungen, die in diese damals revolutionäre neue Form der Kommunikation gesteckt wurden, weisen Parallelen zur Ära des Internets auf, sondern auch die allgemeinen Bedenken sowie die Konsequenzen, welche die explosionsartige Ausbreitung des internationalen Telegrafennetzes für Unternehmen und Medien mit sich führten.

USA kommerzialisiert die Telegrafennutzung

Obwohl die technische Entwicklung der Telegrafie zeitgleich von mehreren Tüftlern in verschiedenen Ländern forciert wurde, waren es wie auch beim Internet die Vereinigten Staaten, in denen das Telegrafennetz nach dem Erreichen der Marktreife am schnellsten wuchs und auch frühzeitig für kommerzielle Zwecke eingesetzt wurde - während Telegrafie in Europa lange vorrangig als Instrument für den schnellen diplomatischen und offiziellen Austausch zwischen Nationen zum Einsatz kam. Innerhalb von vier Jahren, zwischen 1846 und 1850, schwollen die Ausmaße des US-Telegrafennetzes von 40 Meilen auf über 12.000 Meilen (fast 20.000 Kilometer) an, vorangetrieben von 20 unterschiedlichen Firmen. Meldereiter-Stafetten wurden überflüssig.

Durchaus amüsant sind die Parallelen in Bezug auf die Rolle Frankreichs: Denn genau wie unsere als eigensinnig geltenden westlichen Nachbarn mit Minitel eine spezielle, frühe Form des Internets betrieben, auf die zu ihrem Höhepunkt im Jahr 2002 immerhin neun Millionen Terminals Zugriff hatten , die aber in diesem Jahr eingestellt wurde, preschten sie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit dem optischen Telegraf vor und konnten bereits innerhalb von Minuten oder wenigen Stunden über längere Distanzen kommunizieren, noch bevor andere Nationen dazu in der Lage waren. Doch diese Vorreiterrolle ging verloren, als sich im Rest der Welt der deutlich leistungsfähigere, modernere und effizientere elektrische Telegraf durchsetzte, die Franzosen aber ihre eigene Errungenschaft nicht aufgeben wollten.

Telegrafie galt als Türöffner für den Weltfrieden

Als die Euphorie über die Telegrafie in den Jahren nach 1850 die ganze Welt erfasste, wurden hastig unzählige - laut Standage eher zweifelhafte und wenig fundierte - Bücher über die neue Technologie publiziert. Nicht weniger als den Weltfrieden erwarteten sich viele Beobachter von der aus damaliger Sicht an ein Wunder grenzenden Fähigkeit, in Sekundenschnelle über Kontinente hinweg mit fremden Ländern in Kontakt treten zu können, anstatt viele Wochen auf per Schiff transportierte Botschaften warten zu müssen. Das Ende aller Vorurteile und Feindseligkeiten stehe bevor, so eine damalige Annahme. Die Erde sei dramatisch geschrumpft. Ähnlicher Optimismus lässt sich heute auch häufig in Bezug auf die Auswirkungen des Internets auf unsere Welt bezeugen - von mir existiert auch die ein oder andere Aussage in diese Richtung. Das Buch gibt hier eine gute Gelegenheit zur Reflexion.

Tagesaktuelle Medien sahen ihr Ende bevorstehen

Doch genau wie überzeugten Webaktivisten und -optimisten heute chronische, unbeirrbare Kritiker gegenüberstehen, sorgte die Einführung der Telegrafie nicht nur für überschwängliche Begeisterung, sondern auch für Befürchtungen, die sich später als übertrieben herausstellten. Zeitungen waren plötzlich mit der für sie unbekannten Situation konfrontiert, dass jeder Konkurrent Meldungen aus entfernten Regionen zeitgleich per Telegraf erhielt. Der bisherige Wettbewerbsvorteil, Informationen aus der Ferne einige Tage vor der Konkurrenz in Empfang nehmen zu können, war dahin. Mancher Bedenkenträger sah daher die Einstellung aller Tageszeitungen als logische Folge. So kam es natürlich nicht. Allerdings waren die Verlage gezwungen, ihren Schwerpunkt weg von der alleinigen Nachricht hin zu Analysen und Hintergründen zu verlagern. Standage beschreibt, wie die Medien dann auch schnell erkannten, dass die Telegrafie ihnen viele neue Möglichkeiten bot.

Auch Diplomaten zeigten sich über die mit dem Telegraf rasant beschleunigenden Kommunikationsprozesse besorgt. Die neue Erwartungshaltung an sie, blitzschnell mit Stellungnahmen auf aktuelle Sachverhalte reagieren zu müssen, würde zu voreiligen Kommentaren führen und damit Konflikte anheizen, statt sie zu entspannen. Der Autor zitiert einen französischen Historiker, der nach dem Deutsch-Französischen Krieg 1870/1871 behauptete, dieser sei durch nicht sorgfältig gewählte Worte als Konsequenz aus der Existenz der Telegrafie ausgelöst worden. Wer sich schon einmal wegen eines Tweets im Zentrum eines "Shitstorms" befand, nickt jetzt womöglich gerade zustimmend.

Die Furcht vor der Informationsüberflutung

Und auch vor dem sogenannten Information Overload hatte man schon 1860 Angst. Standage widmet dem Thema mehrere Seiten. Eine Zeitung in Michigan soll nach seinen Schilderungen plakativ den Telegrafendienst eingestellt haben, weil sie keinerlei Mehrwert darin sah, dass Meldungen über Hochwasser in Shanghai oder Frost in Sibirien den Ticker verstopften. Händler und Geschäftsleute wiederum waren nach dem Abendessen und im Prinzip zu jeder Tageszeit gezwungen, sich über neueste Preise und Marktentwicklungen informieren zu lassen, um nichts zu verpassen. Der Telegraf wurde für sie zu einer neuen Droge.

In einem entscheidenden Punkt lässt sich vorerst noch keine Parallele ziehen: Denn während das Internet seinen Siegeszug fortsetzt, wurde die Telegrafie zur Jahrhundertwende von der Telefonie abgelöst. Bezeichnend für das Unvermögen des Menschen, technische Innovationen korrekt bewerten zu können, gingen viele damals davon aus, dass es sich bei der Erfindung des Telefons lediglich um ein unwesentliches Nebenprodukt der weitaus wichtigeren Entwicklung des sogenannten " akustischen Telegrafen " handele. Kurze Zeit später wurde die Telegrafie vom Telefon verdrängt.

Auch wenn das Internet aufgrund seiner unmittelbaren Verfügbarkeit für Milliarden Menschen meines Erachtens nach für das einzelne Individuum trotzdem die revolutionärere Technologie ist, erweitert Tom Standage mit seinem zeitlosen Titel die vielseitigen Dimensionen der heutigen Entwicklung um eine informative, lehrreiche und nützliche Facette. Vor 150 Jahren veränderte schon einmal ein weltweites Netz Kommunikation, Wirtschaft und Alltag der Bevölkerung. Von den hohen Erwartungen und vorhergesagten Risiken ging manches in Erfüllung, und manches nicht. Kaum anders wird es mit dem Internet verlaufen. Nur dass wir momentan noch nicht genau wissen, welche der propagierten Verbesserungen und prognostizierten Gefahren sich als berechtigt erweisen, und welche nicht.

Wer sich mit dieser kurzen Zusammenfassung dieses Werks nicht begnügt, dem empfehle ich die Lektüre. Das Buch liest sich gut und ist kompakt genug gehalten, damit auch Vielbeschäftigte daran nicht wochenlang zu knabbern haben.

Das Buch gibt es in der Originalfassung  hier bei Libri und hier bei Amazon . Eine deutsche Version existiert ebenfalls .  Wer uns unterstützen will, darf es auch gerne über diesen  (Original) oder diesen (auf Deutsch) Affiliate-Link bestellen.

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