Natürlich gibt es in jedem Unternehmen eine natürliche Abschmelzquote. Wir können nicht alle Kunden haben und halten - und manche wollen wir auch nicht. Veränderte Lebensumstände können zum Beispiel zu Ausfällen führen. Oder die Konkurrenz ist einfach attraktiver. Die schnellen Informationszugriffe und kostengünstigen Kaufmöglichkeiten im Internet mögen eine Rolle spielen. Neue Konsummärkte und sich wandelndes Sozialverhalten werden einen gewissen Einfluss haben. Doch all das erklärt Kundenflucht nur ansatzweise.
Meine These lautet: Der Mangel an Kundenloyalität und die damit einher gehenden Kundenverluste sind in erster Linie hausgemacht. Die größten Loyalitätszerstörer heißen: Austauschbarkeit, Preis-Aktionismus, emotionale Kälte und ständig wechselnde Ansprechpartner. Wer schon allein an diesen Punkten ansetzt, kann die Kundentreue beträchtlich erhöhen und damit seine Fluktuationsraten deutlich senken.
Den wahren Gründen auf der Spur
Hinter den meist rational vorgetragenen sachlichen und fachlichen Wechsel-Anlässen stecken oft ganz andere, die eigentlichen Gründe. Viele Kunden beenden eine Geschäftsbeziehung in Wahrheit aufgrund zwischenmenschlichen Fehlverhaltens:
- Weil man sich um ihr Wohlbefinden nicht gekümmert hat.
- Weil man unfreundlich oder unhöflich zu ihnen war.
- Weil sie keine Aufmerksamkeit bekommen haben.
- Weil sie nie ein Danke hörten.
- Weil nie gesagt wurde, wie wichtig sie als Kunde sind.
- Weil sie einfach vergessen wurden.
Solche emotionalen Aspekte können durch schriftliche Befragungen kaum offen gelegt werden. Was man schriftlich von sich gibt, soll schließlich vernünftig klingen und plausible Erklärungen liefern. Um den eigentlichen Abwanderungsgründen auf die Spur zu kommen, hilft zum Beispiel die folgende Methode zusammen mit den dabei gemachten Beobachtungen deutlich weiter.
Die Critical Incident Technique (CIT)
Die "Methode der kritischen Ereignisse" versucht, im Rahmen einer tiefer gehenden Analyse den genauen Hergang der Geschehnisse zu identifizieren, die einen Kunden zum Abwandern brachten. Dies geschieht in zwei Schritten. Im ersten Schritt wird der Befragte gebeten, sich genau an das ausschlaggebende Ereignis zu erinnern und dieses möglichst in allen Einzelheiten zu beschreiben.
Im zweiten Schritt wird versucht, mit Zusatzfragen wie: "Was passierte an der Stelle ganz genau?" – "Wie kam es zu dieser Situation?" - "Wer machte was?" - "Wie ging es dann weiter?" - "Wie fühlten Sie sich dabei?" - "Wie haben Sie schließlich reagiert?" tiefer ins Detail zu dringen. Das kann sich in etwa wie folgt entwickeln:
Frage: Wie lange waren Sie schon Kunde bei Versicherung x?
Antwort: Zehn Jahre.
Frage: Was veranlasste Sie denn, Ihren Vertrag zu kündigen?
Antwort: Die Versicherung y hat bessere Tarife.
Frage: Waren die Tarife von Versicherung y schon immer niedriger oder sanken sie erst in letzter Zeit?
Antwort: Ich weiß es nicht, ich habe es erst kürzlich bemerkt.
Frage: Was führte dazu, dass Sie es bemerkten?
Antwort: Ich war ein wenig verärgert über Versicherung x und erhielt dann einen Anruf von Versicherung y.
Frage: Weshalb waren Sie denn verärgert?
Antwort: Um ehrlich zu sein, es war wegen dieser Tariferhöhung nach meinem Unfall.
Frage: War das früher auch schon mal passiert?
Antwort: Ja, schon zweimal sogar.
Frage: Und da haben Sie nicht gekündigt, weil es anderswo billiger war?
Antwort: Nein.
Frage: Was war denn diesmal anders?
Antwort: Dieses Mal hatte man mich nach der Schadensregulierung nicht vorgewarnt und so hatte ich gar nicht mehr damit gerechnet.
Wie sich herausstellte, war aus Kostengründen der sogenannte Schadensabschlussbericht an die Kunden, die einen Unfall gehabt hatten, eingestellt worden - ohne sich groß Gedanken darüber zu machen, was das bei den Kunden bewirkt. Die typische Controller-Frage: "Wie viel sparen wir, wenn wir …?" muss daher zukünftig lauten: "Wie viele Kunden verlieren wir, wenn wir …".
Dies gilt insbesondere dann, wenn etwa bedingt durch Vertragsende, Konditionen-Anpassungen oder Versand von Jahresrechnungen verstärkt mit Kündigungen zu rechnen ist.
Emotionen gehen vor
Häufig sind es tatsächlich nur Bagatellen, die zu Verärgerung und Enttäuschung und damit schließlich zum Abwandern von Kunden führen. Kundenverluste haben auch viel seltener etwas mit Preisen zu tun, als allgemein angenommen wird. "Zu teuer" ist ein wunderbarer Vorwand für beide Seiten: Für den Kunden, damit er seine emotionale Verletztheit nicht offen legen muss. Und für den Betreuer, um sich aus der persönlichen Verantwortung zu stehlen.
So erbrachte eine Untersuchung der Forum-Marktforscher aus Mainz, dass nicht die Konditionen, sondern kommunikative und zwischenmenschliche Faktoren die Hauptgründe für niedrige Zufriedenheitswerte bei Ex-Bankkunden waren. Übrigens hatten sich nur 5 Prozent aller Kunden, aber 14 Prozent aller Ex-Kunden bereits bei ihrer Bank beschwert. Die jeweils letzte Beschwerde erfolgte bei den bestehenden Kunden zu 13 Prozent, bei den Ex-Kunden zu 29 Prozent per Brief. Eine schriftliche Beschwerde heißt also: fünf vor zwölf.
Selber schuld!
Es ist schon paradox: Unternehmen geben oft so unglaublich viel Geld aus, um neue Kunden zu gewinnen. Doch kaum sind sie endlich eingefangen, wird an allen Ecken und Enden gespart: Mitarbeiter werden nicht trainiert, es sind zu wenig da, sie haben keine Lust – oder Frust. Sie werden schlecht geführt, sie haben keine Ressourcen, keinen Spielraum und keine Ideen, um Kunden zu begeistern und schließlich zu loyalisieren. Die Kunden sollen sich einfügen und parieren. Diese allerdings fühlen sich vernachlässigt, gelangweilt, falsch verstanden, von oben herab behandelt, schikaniert - und schließlich vertrieben.
Durch unkluges Verhalten befeuern manche Anbieter geradezu den Kundenentschluss, sich nach Besserem umzusehen. So lässt man Kündiger in vielen Branchen ohne die geringste Rückgewinnungsinitiative einfach ziehen. Gleichzeitig werden Ex-Kunden zugemüllt mit Neuakquise-Angeboten, die deutlich unter den zuletzt bezahlten Tarifen liegen. So lernt der Kunde: Wer Verträge kündigt ist schlau, denn er erhält bessere neue Tarife. Wer Verträge nicht kündigt, ist dumm, denn er zahlt die höchsten Tarife. Im Klartext heißt das: Loyalität wird bestraft. Dabei ist doch wohl klar: Wer treue Kunden will, muss Kundentreue belohnen.