Mich irritiert, wie weit verbreitet es immer noch ist, Erwerbsarbeit und Leben als Gegenpole wahrzunehmen. Ich jedenfalls würde niemals täglich acht oder neun Stunden meiner kostbaren Zeit opfern für etwas, das ausserhalb des Lebens liegt.
Macht es wirklich Sinn, Arbeit und Freizeit zu trennen?
Es geht mir hier nicht um Wortklauberei und Definitionen, sondern um eine grundlegende Einstellung. Der Begriff Work-Life-Balance wurde schon vor Jahren für tot erklärt. Auch hier haben wir immer wieder darüber geschrieben, weshalb «Leben» und «Arbeit» nicht als getrennte Bereiche verstanden werden sollten.
Das Thema ist aber noch lange nicht gegessen, was auch erklärt, dass Blogs es immer wieder aufgreifen: Vor wenigen Tagen hat Jochen Mai 5 Antithesen zur Work-Life-Balance gepostet, die auf den Punkt bringen.
Vorab: Mir ist bewusst, dass ich für einen privilegierten Kreis schreibe. Wir alle - Leser und Autoren - haben vermutlich ein solides Bildungsniveau und und können bis zu einem gewissen Grad beeinflussen, welcher Erwerbsarbeit wir nachgehen. Wir bauen bewusst an unserer Karriere und haben beim letzten Jobwechsel darauf geachtet, dass wir eine Arbeit finden, die unseren Stärken und Vorlieben entgegenkommt - mit einigen Abstrichen, mit denen jeder Mensch im Lauf seines Lebens konfrontiert wird. Wir können wichtige Faktoren in unserer Arbeitsumgebung mitgestalten.
Die grosse Energieverschwendung: Aufbegehren statt mitbestimmen
Warum begegne ich dann trotzdem, auch im Umfeld der typischen imgriff-Leser, immer wieder Menschen, die auf den Feierabend oder das Wochenende hinzuleben scheinen? Für die es eine Katastrophe ist, wenn sie mal ein paar Minuten ihrer Freizeit opfern müssen? Für die «Freizeit» das Allerheiligste ist?
Vielleicht haben diese Zeitgenossen einfach unbesehen die Einstellung früherer Generationen übernommen, die noch nicht mitbestimmen konnten, welchen Beruf sie ergreifen wollten, und für die Arbeit tatsächlich oft ein Zwang war - und Freizeit ein rares Gut.
Vielleicht liegt es auch an dem latent schlechten Gewissen, das wir oft haben, wenn wir «nichts tun». Psychologisch könnte sich da in etwa Folgendes abspielen: Das schlechte Gewissen fusst ja wohl darauf, dass uns irgendeine - sichtbare oder unsichtbare - Autorität das Arbeiten als Idealzustand vorschreibt. Also begehren wir dagegen auf und kämpfen verbissen um unser Recht auf Freizeit bzw. Freiheit vom Zwang der Arbeit.
Was für eine Energieverschwendung! Und nebenbei sabotieren wir unsere eigenen Möglichkeiten der Mitgestaltung und Mitbestimmung unserer Arbeit. Darunter leidet zwangsläufig unsere Zufriedenheit wie auch unsere Produktivität.
Auch das Konzept «Freizeit» ist zu hinterfragen
Ist Freizeit gleichbedeutend mit Freiheit? Sind wir denn tatsächlich «freier», wenn wir gerade nicht arbeiten?
Natürlich nicht. Unser Leben ist durch vielerlei Zwänge bestimmt. Die Kunst ist es, sich innerhalb dieser Schranken eine möglichst grosse Freiheit zu bewahren; dies gilt für die Arbeit genauso wie für die «Freizeit». (Ausser man zieht auf eine ferne Insel und lebt als Selbstversorger abgeschottet von der Gesellschaft, aber das ist eine andere Geschichte.)
Was für mich - nebst der erwähnten Mitgestaltung und Mitbestimmung - wichtig ist: dass ich in meinem Leben mehrere kleine, strategisch gut platzierte Inseln der Erholung habe, die entweder Orte oder Tätigkeiten sein können. Das kann beispielsweise ein schöner Ort in den Bergen sein, wo ich die Wochenenden verbringe; aber darüber hinaus unentbehrlich ist ein Ort oder eine Tätigkeit an meinem ergonomischen Arbeitsplatz oder in unmittelbarer Nähe dazu. Denn es macht ja kaum Sinn, dass ich jedesmal, wenn ich eine kurze Auszeit brauche, drei Stunden zu dem besagten Bergdorf reisen muss.
Auf der anderen Seite beunruhigt es mich nicht, wenn ich gerade privat unterwegs bin und mir ein paar zündende Ideen für die Arbeit einfallen - im Gegenteil, ich bin dankbar dafür und notiere sie sofort. Wenn meiner Praktikantin etwas Spannendes einfällt und sie mich am Wochenende kontaktiert, dann freue ich mich darüber. Es setzt mich auch nicht unter Druck, dass ich in der «Freizeit» für meinen Chef und meine Arbeitskollegen erreichbar bin - sie machen ja nicht ständig von dieser Erreichbarkeit Gebrauch.
Die Polarisierung macht unausgewogen und unglücklich
Ich begegne des öfteren Menschen, die in ihrer Freizeit «zum Ausgleich» möglichst ausgiebig feiern oder ein aufwändiges, adrenalintreibendes Hobby ausüben. Dagegen ist an und für sich nichts einzuwenden. Nur habe ich beobachtet, dass diese Tätigkeiten meist ebenfalls zu einem Zwang werden; hat man doch die ganze Woche darauf hingelebt und war im Kopf nicht bei der Arbeit. Entsprechend steigt die Erwartung an das Kompensationsprogramm. Wehe, das Wetter oder sonst etwas macht uns einen Strich durch die Rechnung! Es sind übrigens auch diese Menschen, die einen grossen Teil der Freizeit, die sie mit mir verbringen, darauf verwenden, sich über ihren Job zu beklagen.
Die zweite Kategorie der Freizeit-Fanatiker fokussiert krampfhaft auf die Erholung. Wer unter Work-Life-Balance versteht, dass er sich in seiner Arbeitszeit bis zur Erschöpfung seinem anspruchsvollen Job widmet und sich in seiner Freizeit vor allem davon erholt, der bestraft sich gleich doppelt: Er «muss» einen Teil seines Lebens arbeiten, und in der Restmenge seines Lebens «muss» er sich erholen, darf also nichts Spannendes, Aufregendes oder Unerwartetes erleben, weil das ja seiner Erholung abträglich sein könnte.
Natürlich finde auch ich hin und wieder: «Jetzt wäre zum Ausgleich dringend mal eine Städtereise angesagt». Bei solchen Unternehmungen erhole ich mich aber nicht primär von meiner Arbeit, sondern von meinem Alltagsleben als Ganzes: Auch Freizeitaktivitäten, kleine Projekte mit Freunden, das Leben in der Gesellschaft können bekanntlich anstrengend sein.
Auch wenn solche Tapetenwechsel inspirierend und entspannend sind - sie sollten die erwähnten Inseln der Erholung im Alltag nicht ersetzen oder überflüssig machen. Denn wer möchte die Luft anhalten und warten, bis er sich endlich wieder ein verlängertes Wochenende oder einen Urlaub gönnen kann?
Unser Leben - und das Arbeitsleben macht nur ungefähr ein Drittel davon aus - ist oft rasant, anspruchsvoll und aufreibend. Es ist aber auch voll von erheiternden, anregenden und glücklichen Momenten. Das Ziel sollte nicht sein, die Unterschiede zu vertiefen und dadurch die Dualität zu intensivieren, sondern im Gegenteil ein gesundes Nebeneinander der beiden Aspekte zu erreichen.
Liebe Freizeit-Fanatiker, ich kann es Euch nur empfehlen!