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Wenn wir das Naheliegende nicht mehr sehen

Fotoshooting: Blumenwiese

Blumenwiese GettyImages

Wir sind stolz darauf, immer effizienter zu werden und unsere Produktivität - scheinbar - zu steigern. Dabei kommt uns aber die Fähigkeit abhanden, das Naheliegende zu sehen und zu nutzen.

Ein Plädoyer fürs Schlendern, Trödeln, Mäandrieren und Prokrastinieren

Bei meinem täglichen kurzen XING-Besuch ist mir heute ein Inserat ins Auge gestochen, das mich nachdenklich gestimmt hat:

 «Gesucht für Fotoshooting: Blumenwiese»

Mein erster Gedanke war: Ist der arme Inserent so gestresst und dermassen ein Sklave seiner Arbeit, dass er nie mehr eine Blumenwiese zu Gesicht bekommt?

Das ist vermutlich zu weit gegriffen. Ja, wahrscheinlich hat der Mann kürzlich auf einem Wochenend-Ausflug eine Blumenwiese gesehen und noch flüchtig gedacht: «Ist die schön!» Vielleicht kommt er auch beim Joggen regelmässig an einer Blumenwiese vorbei.

Ihm fehlt offensichtlich etwas anderes, und das ist genauso beunruhigend: Er hat die Fähigkeit verloren, das, was er in einem Kontext wahrnimmt, in einem anderen Kontext ebenfalls zu sehen. Er nimmt beispielsweise Arbeit und Freizeit als zwei unterschiedliche Welten wahr und schafft es nicht mehr, Anregungen und Impulse vom einen Bereich in den anderen zu übertragen.

Das ist schade. Und ich habe den Verdacht, dass es vielen von uns so geht - unter anderem deshalb, weil wir unsere Arbeitsweise immer effizienter und produktiver gestalten wollen. An sich eine löbliche Absicht. Aber wenn all unsere Aktivitäten, inklusive die «geplante Erholung», in einen Zeitplan gepresst werden, dann kommt uns das Schlendern, das Trödeln, das Mäandrieren, das Umwege-Machen abhanden. Und damit auch die Serendipität; das Profitieren also von einem glücklichen Zufall, während man eigentlich nach etwas anderem sucht oder forscht.

Wenn ich etwa einer Fragestellung, die mich beruflich beschäftigt, verbiete, auch mal in der Freizeit durch meine Gehirnwindungen zu spuken, dann verzichte ich auf erhebliche Chancen durch spontane Einfälle oder Begegnungen. Ja, sogar beim Prokrastinieren ist so manchem schon die zündende Idee gekommen. (Oder beim Duschen . Oder beim Auf-den-fünften-Einsatz-des-Weckers-Warten .)

Darum: Gewöhnen wir uns das Schlendern wieder an! Vielleicht glauben wir dabei Zeit zu verlieren und weniger produktiv zu sein. Wenn wir aber die Dinge, Menschen, Gedanken und Ideen, die wir beim Schlendern entdecken, auch in unserem Berufsalltag nutzen, passiert genau das Gegenteil: wir müssen keine Zeit verschwenden für Blumenwiesen-Castings und ähnliche Absurditäten und werden somit unter dem Strich wieder produktiver.

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