Die Erfahrung zeigt: Massenveranstaltungen in der Universität sind selten spannend. Ausnahmen beweisen aber, dass das nicht so sein muss. Erkenntnisse, die auch für Seminare im betrieblichen Rahmen oder für Vorträge gültig sind.
Im Lauf meines Studiums habe ich viele langweilige Lehrveranstaltungen besucht, aber auch einige brillante erleben dürfen. Was macht eigentlich den Unterschied aus? Sind Vorlesungen immer langweilig und fesselnde Veranstaltungen nur als Kleingruppenseminar möglich? Ich meine: Nein. Obwohl kleine Gruppen unbestreitbar Vorteile haben und nicht ersetzbar sind, haben sie die Möglichkeit, spannend und lehrreich zu sein, nicht für sich gepachtet.
Beide Veranstaltungen, die ich im Folgenden als Beispiele herausgreife, waren Massenveranstaltungen: eine Vorlesungsreihe über Operngeschichte und ein Germanistik-Hauptseminar mit über hundert Teilnehmern. Das Modell Universitätsvorlesung dient mir dabei nur als Beispiel. Nur weniges, was ich hier erwähne, ist auf Universitäten begrenzt oder universitären Gepflogenheiten geschuldet, vieles ist übertragbar auf Seminare im betrieblichen Rahmen, auf Fortbildungen oder auch Präsentationen.
Zu den Lehrveranstaltungen, die mir am markantesten im Gedächtnis geblieben sind, gehören die Operngeschichte-Vorlesungen von Prof. Dr. Jürgen Maehder. Der Form nach waren sie klassische Vorlesungen; was sie spannend machte, war die Verbindung von Maehders geradezu enzyklopädischem Wissen auf seinem Fachgebiet mit seiner Fähigkeit, Zusammenhänge herzustellen: etwa zwischen dem Stand der Bühnentechnik und der Unaufführbarkeit des Parsifal zu Wagners Lebzeiten, oder zwischen linguistischen Besonderheiten des Deutschen, Wagners Textdichtung und der Melodiebildung im «Ring des Nibelungen». Medien wurden sehr sparsam eingesetzt. Dann und wann legte Maehder eine CD ein oder präsentierte einen Videomitschnitt einer Operninszenierung. Ob Video, Tafelzeichnung oder Musikbeitrag, diese Medien waren stets auf ein ganz konkretes Phänomen bezogen. Immer blieben Details – bis zu einem einzelnen Akkord in der Partitur – mit den großen Zusammenhängen im Gleichgewicht.
Ganz anders und dennoch ebenso prägend war ein Semiotik-Seminar von Prof. Dr. Ursula Kocher, das ich am Anfang meines Hauptstudiums besuchte. Mit über hundert Teilnehmern war es riesig. Das übliche Vorgehen, dass am Anfang der Sitzung ein Referat über einen vorher bekannt gegebenen Text gehalten und über dessen Inhalt anschließend diskutiert wird, war damit kaum praktikabel – was Kocher statt dessen anwendete, funktionierte wesentlich besser. Am Anfang des Semesters wurden kleinere Aufgaben verteilt, deren Bearbeitungszeit deutlich kürzer war als bei der üblichen Abgabe am Semesterende. Sie sollten – so war es geplant – den Kommilitonen als ergänzendes Material zur Verfügung gestellt werden. (Das war einer der wenigen Punkte, wo der Seminarplan nicht ganz aufging.) Die Sitzungen waren um in sich recht gut strukturierte Texte herum aufgebaut, zu denen etwa Gruppenarbeit stattfand und deren Inhalt tatsächlich abgefragt wurde. Auch Kocher verwendete keine Medien außer der Tafel, an der sie immer wieder Visualisierungen skizzierte, die die Diskussion begleiteten und das gemeinsam Herausgearbeitete veranschaulichten.
Was war beiden Veranstaltungen neben ihrem sparsamen und pointierten Medieneinsatz gemein?
Wissen wurde am Objekt (Audio/Video, Partitur oder - in den meisten Fällen - Text) erarbeitet oder zumindest mit der eigenen Erfahrung in Beziehung gesetzt. Das gemeinsame Erarbeiten von Wissen - und im Fall des Semiotik-Seminars das tatsächliche Abfragen von Ergebnissen - verstärkte die Bereitschaft, sich vorzubereiten und einzubringen; zugleich wirkte die Greifbarkeit der Ergebnisse dem Gefühl, in einer «Laberveranstaltung» zu sitzen, wie es sich gerade in geisteswissenschaftlichen Seminaren gerne einstellt, entgegen bzw. ließ es gar nicht erst aufkommen.
Beide Lehrveranstaltungen waren inhaltlich anspruchsvoll bis fordernd. Maehder etwa scheute vor komplexen harmonischen Analysen nicht zurück, und Umberto Ecos Theorie der Kultur, wie wir sie im Semiotik-Seminar erarbeiteten, habe ich als einen der anspruchsvollsten Punkte meines Studiums im Gedächtnis behalten.
Nicht zuletzt waren auch die Person und das Fachwissen des Dozenten Stärken der Veranstaltungen: Sowohl Maehder als auch Kocher bewegten sich auf ihrem Fachgebiet wie Fische im Wasser. Sie waren immer in der Lage, ohne Vorbereitung Detailfragen zu beantworten und spontan Verknüpfungen von einer Sache zur anderen darzustellen. Umfassende Bildung über den fachlichen Tellerrand hinaus war bei beiden das Schmiermittel dieses Zugriffs auf Wissen.
All das ist nicht selbstverständlich: So habe ich z.B. auch literaturgeschichtliche Überblicksvorlesungen erlebt, in denen hauptsächlich Ausschnitte aus Werken einer bestimmten Epoche vorgelesen wurden. Das waren dann zwar Semesterwochenstunden, die ich für recht wenig Eigenleistung in mein Studienbuch schreiben konnte, den Inhalt habe ich mir hinterher aber noch einmal aus einem Literaturgeschichtsbuch anlesen müssen.
Was kann man nun von diesen konkreten Erfahrungen als Auswahlkriterien für eine gute Lehrveranstaltung ableiten?
- Medien - ob Tafel, Powerpoint oder Video - werden gezielt eingesetzt, es ist immer klar, was damit illustriert oder diskutiert werden soll.
- Visualisierungen entstehen im Prozess und dienen nur als Stütze des Vortrags oder der Diskussion, nicht als Leitfaden.
- Vorbereitetes Wissen, Ergebnisse von Gruppenarbeit, Hausarbeiten etc. werden tatsächlich abgefragt. Hier sind kleine Gruppen unbestreitbar von Vorteil.
- Statt reiner Fakten werden Zusammenhänge - auch über scheinbare fachliche Tellerränder hinaus - präsentiert. Detailanalyse und die Darstellung großer Zusammenhänge befinden sich im Gleichgewicht und ergänzen sich.
- Keine Schonkost: Eine gute Lehrveranstaltung fordert die Teilnehmer ihrem Kenntnisstand angemessen.