Unerwartete Einsichten: Der Soziologe Sudhir Venkatesh begleitete zehn Jahre lang eine Gang in Chicago und lernte viel über das Führen einer Organisation.
Im Herbst 1989 verirrt sich ein indischstämmiger Soziologiestudent mit Pferdeschwanz und Batik-T-Shirt in die "Robert Tayler Homes" in Chicago, Illinois. Sudhir Venkatesh ist getrieben von seinem Ehrgeiz, den Alltag der Armen und Ausgeschlossenen zu erforschen. Die " Robert Taylor Homes " sind das größte Wohnprojekt in den USA, ein Ort, an dem Frauen ihren Körper für weniger als 20 Dollar für eine Stunde Sex vermieten, die Hälfte der Jugendlichen Drogen handelt und nicht einer der Bewohner Steuern zahlt.
Hier will Venkatesh mit einem statistischen Fragebogen erfassen, wie es so ist, das Leben am unteren Ende der Gesellschaft. Und fällt gleich am ersten Tag der Gang in die Finger, die dort mit Drogen handelt:
Ich las ihm die gleiche Frage vor [...]. Was ist es für ein Gefühl, schwarz und arm zu sein?
"Ich bin nicht schwarz", antwortete er und wechselte wissende Blicke mit den anderen.
"Na, dann: Was ist es für ein Gefühl, Afroamerikaner und arm zu sein?" Ich bemühte mich um einen entschuldigenden Tonfall und hoffte, dass ich ihn nicht beleidigt hatte.
"Ich bin auch kein Afroamerikaner. Ich bin ein Nigger."
Darauf wusste ich nichts zu sagen. Ich fühlte mich überhaupt nicht wohl bei dem Gedanken, ihn zu fragen, was es für ein Gefühl sei, ein Nigger zu sein. [...]
"Was hier in diesem Gebäude wohnt, sind Nigger", sagte er schließlich. "Afroamerikaner wohnen in den Vorstädten und tragen Krawatten, wenn sie zur Arbeit gehen. Nigger finden keine Arbeit."
Das ist der Anfang eines beinahe freundschaftlichen Verhältnisses zu J. T., dem Leiter der Gang, die das Haus benutzt, bewacht und beherrscht. Mehr als zehn Jahre begleitet Sundir Venkatesh J. T. und seine Gang, spricht mit den Bewohnern des Hauses und erforscht ihr Leben am Rande der Gesellschaft. Herausgekommen ist ein packendes Buch über die Ökonomie des Untergrunds: Underground Economy. Was Gangs und Unternehmen gemeinsam haben .
Sudhir Venkatesh hat sich aber nicht nur mit der Ökonomie am Rande der Gesellschaft beschäftigt. Ihm fiel auch auf, dass das Leiten einer Gang keine leichte Sache ist. Wie die Leute motivieren, wenn der Job hart ist, moralisch fragwürdig, mit hohen Risiken verbunden und obendrein schlecht bezahlt? Venkatesh hat J. T. und seine Gang beobachtet und einiges gelernt.
Regeln festlegen und sich dran halten
Die Spielregeln in der Gang sind klar definiert. Es gibt eine feste Hierarchie. Jeder hat Rechte und Pflichten. Oberste Regel ist Vertrauen. Regelverstöße werden ausgewertet und disziplinarisch bestraft. Je schlimmer der Regelverstoß, desto härter die Bestrafung, wobei auch körperliche Gewalt angewendet wird. Gangmitglieder müssen Schichten umsonst arbeiten, oder dürfen an besonders einträchtigen Arbeiten nicht teilnehmen. Eine andere Form der Bestrafung ist das Entziehen von Privilegien wie etwa das Tragen einer Waffe.
Disziplinarische Maßnahmen werden vor der gesamten Gang umgesetzt. Das erhöht den Effekt auf alle Mitglieder der Gang. Alle sehen so, dass die Regeln für alle gleichermaßen gelten. Umgekehrt werden Gangmitglieder für positives Verhalten belohnt. Es gibt Beförderungen. Ihnen werden Privilegien gewährt, sie dürfen in einträglichere Schichten wechseln.
Die konkrete Art der Bestrafung und Belohnung mag eine andere sein, aber: Auch in Unternehmen gibt es Regeln, an die sich alle zu halten haben. Diese sollte man immer mit dem Team gemeinsam aufstellen. Das Einhalten dieser Regeln ist wichtig und daher auch zu überprüfen. Das Team sieht schnell, ob sich alle Mitarbeiter an die vereinbarten Regeln halten, oder ob einige sich mehr rausnehmen, ohne dass etwas passiert. Und auch in Unternehmen gilt: Oberste Regel ist Vertrauen. (Ganz wichtig: Man kann Mitarbeiter auch loben!)
Regelmäßiger Kontakt zu Mitarbeitern
J. T. überwacht die Mitglieder seiner Gang, in dem er sie regelmäßig bei der Arbeit kontrolliert. Er besucht mindestens einmal pro Woche jedes der Häuser, das seine Gang besitzt. Er spricht mit jedem einzelnen seiner Mitarbeiter und befragt sie über ihre Arbeit, Probleme und Erfolge. J. T. leitet seine Gang nicht aus der Ferne, sondern im direkten Kontakt.
J. T. stellt allen Mitgliedern seiner Gang Fragen zu ihrer Arbeit. Er redet zuerst mit den Teamleitern über die Arbeit der vergangenen Woche, dann unabhängig mit den Leuten in den Teams:
- Was läuft gut?
- Was läuft schlecht?
- Welche neuen Kunden habt Ihr gewinnen können?
- Wo gibt es Probleme?
- Wer im Team hat was gemacht?
- Wieviel Umsatz wurde gemacht?
- Welche Fehler sind passiert?
Auch im Unternehmen sollten Teamleiter und Vorgesetzte ständig mit allen ihren Mitarbeitern reden. Die dafür nötige Zeit sollte man sich regelmäßig nehmen. Besonders wichtig ist es, seinen Mitarbeitern genau zuzuhören.
Unabhängige Informationen einholen
Um sicher zu sein, dass ihm die Teams die Wahrheit berichten, investiert J. T. viel Zeit und Geld in unabhängige Informationen. Er bezahlt Spitzel und Obdachlose, die seine Teams beobachten. Er redet mit Anwohnern und Kunden. Und er beobachtet selber, falls ihm das unerkannt möglich ist.
Dieser hohe Grad an Misstrauen ist darin begründet, dass der Leiter der Gang niemandem trauen kann. Seinen Mitarbeitern nicht, seinen Geschäftspartnern nicht, niemandem. Alle sind nur daran interessiert, sich selber besser zu positionieren. Der nächste Versuch, den Boss vom Thron zu stoßen, ist immer nur einen Moment entfernt.
Ähnliches Misstrauen wird hoffentlich in den wenigsten Unternehmen herrschen, aber unabhängige und vergleichbare Informationen sind dennoch wichtig. Welche Aktivitäten eines Teams führen zum Erfolg? Und wie kann man diese Aktivitäten messen? Im Vertrieb etwa lässt sich prüfen, wieviele Telefonate geführt und wieviele Angebote geschrieben werden und wieviele Aufträge rein kommen. Aus dem Vergleich der Ergebnisse kann man lernen.
Underground Economy. Was Gangs und Unternehmen gemeinsam haben