Ein Leitbild ist zweifellos ein gutes Instrument, um sich immer wieder die eigenen Ziele vor Augen zu halten. Doch was, wenn langfristige Ziele und tägliche Aufgaben zu weit auseinanderklaffen? Klarheit über die Lebensbereiche und gut gesetzte Zwischenziele können weiterhelfen.
Für mich war es sehr motivierend, ein Leitbild zu erstellen. Nach einigen Wochen weckte es jedoch statt Motivation eher ein Gefühl von «Eigentlich müsste ich mal». Es schien immer noch weit weg von meinem täglichen Leben zu sein, manchmal nichts weiter als ein schöner, nicht realisierbarer Traum. Es war eher demotivierend und frustrierend, wenn ich mir dieses Leitbild anschaute und das Gefühl hatte, meinen langfristigen Zielen keinen Schritt näher gekommen zu sein, während ich mich auf der alltäglichen Ebene wie ein Spielball der Notwendigkeiten fühlte. Meine To-Do-Listen (die ich beharrlich schrieb) blieben unbeachtet liegen, wenn ich etwas davon erledigte, dann war das eher zufällig, und sie enthielten meistens nur Dinge, die auf mich «einstürmten» und so gar nichts mit meinen Zielen zu tun hatten.
Meine Lösung für dieses Problem heißt: Schaffe eine Verbindung vom täglichen To Do zum «großen Ganzen». Ich habe dazu eine Vorgehenweise adaptiert, die Lothar Seiwert in seinem Buch « Wenn du es eilig hast, gehe langsam » empfiehlt. Gelernt habe ich sie allerdings von dem Berliner Coach Dietrich Wolbert, der sie «Lebenskompass» nennt. Was ich hier schildere, ist keine Raketenwissenschaft, ja geradezu banal, aber regelmäßig angewendet bringt es ein anderes Lebensgefühl: idealerweise das, Kapitän des eigenen Schiffes zu sein statt Spielball dessen, was von außen kommt.
Im ersten Schritt identifiziere ich meine Lebensbereiche oder «Lebenshüte» (Dominik hat sie im Artikel "Zeitbudget (I): Ein Zeitbudget erstellen" bereits vorgestellt). Das Konzept der Lebenshüte kommt von Lothar Seiwert und bezeichnet, verkürzt zusammengefasst, Rollen, in denen man im Leben Verantwortung trägt. Wozu dient diese Definition der Lebensbereiche? Sie hilft mir, aus dem ganz Vagen und Allgemeinen überhaupt erst einmal zu den Bereichen zu kommen, die mir in meinem Leben etwas bedeuten, meine Rolle(n) zu reflektieren und mir vorzustellen, wie ich sie gestalten will - oder ob ich sie überhaupt gestalten will: Manche Rollen sollte man vielleicht besser abgeben.
Leitbild mit dem 88. Geburtstag
Nachdem ich meine Lebensbereiche identifiziert habe, erstelle ich für jeden ein kurzes Leitbild. Dazu fand ich eine Übung hilfreich, die Seiwert in «Wenn du es eilig hast, gehe langsam» schildert:
Stell dir vor, es ist die Feier Deines 88. Geburtstags (wer es zeitnäher mag, kann sich auch die eigene Geburtstagsfeier in zehn Jahren vorstellen). Aus jedem Lebensbereich ist eine wichtige Person anwesend: Der Chef Deiner Abteilung (für den beruflichen Bereich), eine gute Freundin (Freunde und Beziehungen), der Vorstand Deines Chores (künstlerisch-kreativer Lebensbereich) etcetera. Jede dieser Personen hält eine Laudatio auf das, was Du in Deinem Leben geleistet hast. Die Laudatio soll rundum positiv sein (sie soll ja hinterher als Leitbild stehen) und kann ruhig hohe Ziele, also auch jede Menge noch nicht Realisiertes beinhalten.
Hat man durch diesen Perspektivwechsel sein Leitbild erst einmal in der dritten Person verfasst, überträgt man es einfach in die erste Person. Statt «Camilla setzt klare Prioritäten» also: «Ich setze klare Prioritäten».
Exkurs: Was formt unser Idealbild?
Ich habe einen Schritt übersprungen, der bei Seiwert vorgelagert ist, nämlich sich über seine Werte und Prinzipien klar zu werden. Das ist wichtig, da die meisten von uns anerzogene oder durch unsere Umwelt geprägte Ideen mit sich herumtragen, wie ein «gutes Leben» zu sein habe. Natürlich sind diese Ideen nicht immer für einen selbst passend. Ein banales Beispiel: Es wird im Allgemeinen hoch geschätzt, früh aufzustehen, und manch eine «Eule» kämpft ihr Leben lang gegen den eigenen Tagesrhythmus an, um in eine «Lerchengesellschaft» zu passen.
Das Leitbild dient jedoch zuallererst mir ganz persönlich, es muss nicht zwingend «präsentabel» sein. Das gibt mir die Freiheit, dort auch unkonventionelle bis extravagante Ziele aufzunehmen. Statt einer Festanstellung in einem Großkonzern, hübschem Haus und netter Familie besteht das gute Leben für mich ja vielleicht eher darin, mein eigenes Gemüse anzubauen, Pferde zu pflegen oder Bücher zu schreiben.
Ich bin überzeugt, dass ein Leitbild nur dann wirksam sein kann, wenn es authentisch ist, wenn es das widerspiegelt, was ich tatsächlich mit meinem Leben anfangen möchte und von dem ich in tiefster Seele überzeugt bin. Darum ist es eher kontraproduktiv, wenn ich ein Leitbild schreibe, das am Ende nur meiner Mutter gefiele.
Vom Leitbild zur Tagesagenda
Ist das Leitbild «rund», folgt das eigentliche Herstellen einer Verbindung. Dazu sehe ich mir die Fernziele an, die in meinen Leitbildern stecken, und überlege, welche strategischen Ziele für die nächsten drei bis fünf Jahre ich daraus ableiten kann. Diese Ziele sind möglichst konkret, sinnlich, exakt und positiv formuliert. Ich formuliere meine Ziele im Indikativ Präsens Aktiv. So kann ich mir das Ziel genauer vorstellen und idealerweise schon visualisieren, wie ich mich fühlen will, wenn ich dieses Ziel erreicht habe. Also steht dort nicht «Ich würde in Zukunft gerne besser mit meiner Zeit umgehen», sondern: «Ich nehme mir Zeit für das Wichtige und agiere proaktiv. Ich setze klare Prioritäten und vermittle diese meiner Umwelt.»
Ich habe diese Ziele nach Lebensbereichen sortiert und die Erfahrung gemacht, dass eine ganze Menge Ziele zusammenkommen, wenn man für jeden Lebensbereich zwei oder drei Ziele setzt (da ich ein Hansdampf in allen Gassen bin, reize ich die sieben Lebenshüte, die Seiwert als Maximum empfiehlt, aus). Vielleicht muss aber nicht jeder Satz im Leitbild zu einem Ziel formuliert werden; manches kann einfach als «Leitstern» stehen bleiben.
Aus den strategischen Zielen für die nächsten drei bis fünf Jahre leite ich, abermals für jeden Lebensbereich spezifisch, die jeweils wichtigsten Jahresziele ab: Was kann ich dieses Jahr tun, um mich dem strategischen Ziel zu nähern?
Dasselbe Verfahren wende ich für meine wöchentliche Agenda und die wichtigsten Aufgaben des Tages an. Dabei berücksichtige ich, dass immer auch noch «Tagesgeschäft» anfällt, das mit meinen Zielen wenig zu tun hat: Post, Behördengänge, Arztbesuche oder einfach die Küche, die mal wieder in einen betretbaren Zustand versetzt sein will. Meist hat nur eine meiner wichtigsten Aufgaben am Tag mit langfristigen Zielen zu tun.
Ein veränderlicher Kompass fürs Leben
Einen Nachteil hat der Lebenskompass: Diese Art der Planung muss gepflegt werden. Sie erfordert, dass man sich auch für die Zeitplanung Zeit nimmt. Am besten geschieht das im Rahmen von jährlichen, wöchentlichen und täglichen Routinen: der Tag im Jahr, an dem man sich zurückzieht und langfristige Ziele plant, die Stunde für den Wochenrückblick, die fünf Minuten am Abend, in denen man sich über den nächsten Tag Gedanken macht. Der Lebenskompass ist wie das persönliche Leitbild ein Dokument, das lebt .
Er ist eine globale Überblicksplanung, die ganzheitlich sein will, also idealerweise alle Lebensbereiche berücksichtigt und in Balance bringt. Bei all dieser Planung gilt es, nicht nur den Überblick und die Verbindung zum «großen Ganzen» zu wahren, sondern auch Raum zu lassen für das Spontane, für das Hier und Jetzt und nicht zuletzt das Tagesgeschäft, all das «anfallende Zeug». Die Balance zwischen Arbeit an großen Zielen und dem alltäglichen Leben bleibt eine Kunst.